Dankbarkeit und Freude

Fünftes Waisenzentrum von Muslime Helfen seiner Bestimmung übergeben

Ahmad von Denffer

Eine schmale Straße führt in ein Wohngebiet. Auf der linken Seite einfache Wohnhäuser, auf der rechten ein paar mit Stoffdächern versehene Verkaufsstände. Hier gibt es außer Süßigkeiten und sonstigem Naschwerk auch Batik-Stoffe, traditionelle Kräutermedizin, religiöse Schriften und CDs. Die Händler sind hierher gekommen, denn heute ist ein besonderer Tag. Sogar ein Brillenverkäufer ist da. Er möchte unbedingt meine Augen prüfen, und ich tue ihm den Gefallen. Es kommt heraus, was ich schon weiß: Die Fernsicht ist in Ordnung, doch eine Lesebrille wird benötigt. Er schreibt mir das Ergebnis auf einen Zettel und legt mir ein Brillenmodell vor, von dem er meint, dass es mir passt. Ich mache ein trauriges Gesicht, zeige auf meine Ohren und frage: Und wie ist mein Gehör? Wollen wir nicht auch die Ohren prüfen? Zusammen lachen wir, die Umstehenden, die alles mit Interesse verfolgt haben, der Brillenverkäufer und ich. Der Scherz hilft ihm über die Enttäuschung hinweg, die Brille nicht an den Mann gebracht zu haben.

Zwischen den Verkaufsständen befindet sich der Eingang zu einem großen Platz, von einem Zeltdach gegen Sonne und Regen geschützt. Vor einer Bühne sind zahlreiche Stühle aufgestellt, inzwischen alle besetzt. Gut die Hälfte der Anwesenden sind Kinder, viele festlich gekleidet, begleitet von älteren Frauen oder Geschwistern. Es sind die Waisenkinder, die unsere Partnerorganisation Al-Husna betreut, mit ihren Begleitern. Die Anwesenden, vor allem die Kinder, sind sichtlich erfreut, mich wieder zu sehen, ich habe sie schon mehrfach besucht. Da sind die zehnjährige Andini, der elfjährige Dimas, Ratna und all die anderen. Ratna ist jetzt 15 Jahre alt und schon seit ihrem vierten Grundschuljahr in der Waisenbetreuung von Al-Husna und Muslime Helfen (MH). Ihr Vater starb 1998, ihre Mutter ging weg auf Arbeitssuche und kam nie wieder zurück. Ratna lebt seither bei ihrer Großmutter, die zum Lebenserwerb von Haustür zu Haustür zieht und Essen verkauft. Wahju Riswanto ist 12 Jahre alt. Weil seine Mutter ihn allein nicht versorgen kann, kam er zu seinem Großvater, der sich als Tagelöhner durchschlägt. Er lebt nicht weit vom bisherigen Al-Husna-Haus und bat deshalb darum, seinem Enkel zu helfen.

Schon seit 2003 unterstützt MH die indonesische Partnerorganisation Al-Husna, die in der kleinen Stadt Garut auf der Insel Java Waisenkinder betreut. Waren es zunächst 30 Kinder, ist ihre Zahl inzwischen auf 52 angewachsen, 49 sind Waisen, 3 besonders arm. Es sind 21 Jungen und 31 Mädchen. Etwa die Hälfte der Kinder geht noch zur Grundschule, die andere Hälfte sind Jugendliche in höheren Schulklassen. Die Kinder leben bei Angehörigen oder sonstigen Betreuern und besuchen wie andere die öffentliche Schule. Doch darüber hinaus erhalten sie Förderunterricht, Hausaufgabenhilfe, religiöse Unterweisung, Lebensmittelhilfe, Schulkleidung, Lernmaterial, Hilfe bei erforderlichem Schulgeld und bei Bedarf auch medizinische Versorgung. Alle drei Monate gehen sie zu einer ärztlichen Routine-Untersuchung. MH stellt hierfür im Jahr ca.12.000 Euro zur Verfügung, also knapp 20.00 Euro pro Kind und Monat. In der MH-Zeitung wurde darüber immer wieder berichtet, Spenden hierfür sind auch weiterhin willkommen. Längst aber war das angemietete Haus, in dem die Waisenbetreuung stattfand, zu klein geworden. Auf engstem Raum zusammengedrängt saßen die meisten Kinder beim Förderunterricht auf dem Boden. Auch die sanitären Anlagen reichten nicht mehr aus, und so entschlossen wir uns nach gemeinsamer Beratung mit Al-Husna dazu, mehr Platz und bessere Möglichkeiten durch ein eigenes Waisenzentrum zu schaffen.

Nach einigem Suchen konnte ein geeignetes Grundstück gefunden werden. Es ist nicht allzu weit vom bisherigen Standort entfernt und grenzt zudem an eine öffentliche Schule an. Beides macht die neue Lage günstig für die Kinder. Der wohlhabende Eigentümer gewährte einen reduzierten Preis, als er von dem Zweck erfuhr, dass hier ein Waisenzentrum errichtet werden soll. Die 2120 m² gab es für rund 50.000 Euro. Im Bezirk Garut gelten wie in weiten Teilen Indonesiens bestimmte Regelungen des Islamischen Rechts, die es ermöglichen, das Grundstück als „waqf“ eintragen zu lassen, d.h. als eine unveräußerliche religiöse Stiftung. Der dazu notwendige Verwaltungsakt erfolgte am 21.Februar 2011. Zu diesem Zeitpunkt war die Bauplanung schon nahezu abgeschlossen, und die Bauarbeiten kamen zügig voran. Auch hierfür wurden etwa 50.000 Euro ausgegeben, dazu noch knapp 10.000 Euro für die Innenausstattung und Möblierung, also rund 110.000 Euro für das Waisenzentrum insgesamt. Heute, am 30. Oktober 2011, wird das neu errichtete Waisenzentrum  seiner Bestimmung übergeben. Eines der Waisenmädchen führt durch das Programm, ein Junge rezitiert aus dem Koran. Ahmad Shodiqun, der Vorsitzende von Al-Husna, hält die Eröffnungsrede. Er berichtet über Al-Husna, über das Waisenprogramm und dankt Muslime Helfen für die langjährige Unterstützung. Ich danke Allah für das Gelingen, übermittele Grüße von MH und seinen Spenderinnen, Spendern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und verweise darauf, dass nun nach der Fertigstellung die Verantwortung für das Waisenzentrum von uns übergeht auf Al-Husna und die Nutzer. Ich fasse mich kurz, ich weiß, die Kinder, und nicht nur sie, warten auf das Essen, und zuvor müssen wir noch den Besichtigungsrundgang absolvieren.

Das Gebäude ist 35 Meter lang und knapp 12 Meter breit. Etwa in der Mitte des Gebäudes führt ein Gang zur Rückseite. Dort befinden sich die Eingänge zu den vier Unterrichtsräumen. So ist gewährleistet, dass sich die Kinder weniger auf der Straßenseite aufhalten. Außerdem gibt es noch einen Büroraum für die Verwaltung und die Betreuer. Am einen Ende des Gebäudes befinden sich drei Toiletten mit Waschraum für die Jungen, am anderen Ende drei Toiletten mit Waschraum für die Mädchen. Das Gebäude ist so gebaut, dass bei Bedarf in Zukunft ein zweites Stockwerk aufgesetzt werden kann, entsprechende Treppen sind bereits vorhanden. Zudem ist das Grundstück groß genug, um später zwei weitere Gebäudeflügel anzufügen. Die freie Fläche wird derzeit als Gartenland genutzt, um die Kinder mit Pflanzen und Gartenbau vertraut zu machen. Sogar ein kleines Fischzuchtwasserbecken ist vorhanden und schon in Betrieb genommen. So erwerben die Kinder ganz praktische Kenntnisse und lernen zudem, Verantwortung zu übernehmen.

Auch ein eigener Brunnen gehört zur Ausstattung. Er wurde im Rahmen des MH-Brunnen-Programms aus Spenden von Familie Badem finanziert, bringt bei Bedarf mit Hilfe einer elektrischen Pumpe Wasser aus etwa 30 Meter Tiefe an die Oberfläche und macht so das Waisenzentrum von der öffentlichen Wasserleitung unabhängig, deren Betrieb nicht zuverlässig ist und immer wieder unterbrochen wird.

Das Gebäude in Garut ist das fünfte Waisenzentrum, dessen Bau und Einrichtung von MH gefördert wurde. Waisenhilfe gab es bei MH schon immer, doch unser Vorhaben, Waisen speziell durch die Errichtung von Waisenzentren besondere Unterstützung zuteilwerden zu lassen, begann nach dem Tsunami in Sri Lanka. Dort bauten wir 2006 zuerst ein Waisenhaus für Mädchen, danach 2008 ein zweites für Jungen. Es folgte 2010 das Waisenzentrum in Bujumbura in Burundi und ein weiteres in Rumonge, das im Jahr 2011 eröffnet werden konnte. Was in Garut noch fehlt, ist ein weiteres Stück Land, das ebenfalls als „waqf“ dienen soll und dessen Einkünfte, wie bei den anderen Waisenzentren, dazu beitragen, den Grundbedarf für den Betrieb des Waisenzentrums zu decken. Auch hierfür sind Spenden willkommen. Die Kinder sitzen auf ihren Stühlen und genießen ihren Imbiss, auch die Erwachsenen greifen gerne zu. Später gibt es Reis, Gemüse, Fleisch und Soße, reichlich und gut. Auf der Bühne wird das Festprogramm fortgesetzt. Die Kinder haben verschiedene Aufführungen eingeübt. Es werden Worte des Propheten vorgetragen, auch kleine Gedichte. Eine Gruppe der Mädchen singt beliebte Lieder und bekommt viel Applaus.

„Und dies sind die Tage“, heißt es im Koran, „Wir lassen sie rundumgehen zwischen den Menschen…“ (3:140). Der Koran bezieht dies auf die tragischen Ereignisse von Uhud und verweist damit darauf, dass es auch im Leben der Muslime nicht nur schöne, sondern ebenso schwierige Zeiten geben kann. Und bei MH ist es nicht anders. Auch wir haben schon unschöne Zeiten erlebt. Doch der heutige Tag ist ein Tag von Dankbarkeit und Freude: Al-hamdu li-llah.

 

 

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