Projektreise Shalatin – Kom Ombo 25.-29.7.2012
Von Abu Yunus
Mittwoch, 25.07.2012: Tamer und ich fahren in der Früh zum Flughafen in Kairo, um nach Assuan zu fliegen. In den letzten Jahren haben wir mit Allahs Hilfe die Verteilung oft in abgelegenen Gebieten Oberägyptens durchgeführt, da die Hilfsorganisationen sich mehrheitlich rund um die Ballungsgebiete engagieren, die leichter zu erreichen sind. Überall in Ägypten gibt es bedürftige Menschen; unsere Hilfen sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Doch die Bedürftigkeit steigt mit der Entfernung zu den Ballungsgebieten.
Nach einer Stunde Flug werden Tamer und ich um ca. 10:00 Uhr im Flughafen Assuan von Bruder Bahaa‘ in Empfang genommen. Bahaa‘ ist der Leiter unserer Partnerorganisation Markaz Qaus in Kom Ombo und arbeitet in einem so genannten staatlichen „Informationszentrum“ (einer Art Statistikbehörde). Er hat gute Verbindungen zu Kollegen in verschiedenen Gebieten Oberägyptens, die uns mit Informationen über die wirtschaftliche Lage bestimmter Gebiete versorgen, welche in die Entscheidung über den nächsten Verteilungsort für die Zakatul-Fitr mit einfließen. Von Assuan aus möchten wir dieses Jahr mit dem Kleinbus rund 450 km weiter u.a. nach Shalatin fahren. Shalatin liegt rund 1000 km südlich von Kairo und 140 km nördlich der sudanesischen Grenze.
Vor dem Flughafengebäude wartet ein Kleinbus mit sieben weiteren Personen auf uns, die uns auf der Reise nach Shalatin begleiten werden. Bahaa‘ erklärt, dass der 450 km lange Weg durch die Wüste nicht ganz ungefährlich sei und die große Reisegruppe unserer Sicherheit diene. Einer der Begleiter erzählt uns später, er als Bauer in Oberägypten dürfe Waffen tragen, und er habe überlegt, zur Sicherheit eine mitzunehmen. Ich denke, er hatte sich dagegen entschieden, jedenfalls sehe ich während der gesamten Reise keine Waffe und vermisse auch keine. Es scheint keinerlei Angst aufzukommen, im Gegenteil: Wie bei vielen solcher Reisen spürt man eine innere Ruhe und Sicherheit. Allah sagt im Koran: „O die ihr glaubt, wenn ihr Allah(s Sache) helft, hilft Er euch und festigt eure Füße.“ (47:7)
Von Assuan aus fahren wir durch den südlichen Teil der Arabischen Wüste gen Osten Richtung Marsa Alam, dann entlang der Küste des Roten Meeres in südlicher Richtung nach Shalatin. Die Straße ist für ägyptische Verhältnisse ungewöhnlich leer. Autos überholen uns kaum, nur alle paar Minuten kommt uns ein Lastwagen entgegen. Die Landschaft ist zunächst recht flach, aber je tiefer wir in die Wüste hineinfahren, desto gebirgiger und markanter wird sie.
Die Gegend scheint extrem lebensfeindlich, sie ist öde und heiß. „Ramad“, denke ich unweigerlich. „Ramad“ ist das arabische Wort für „brennend heiß“, aus dem sich auch der Name des Monats „Ramadan“ ableitet, in dem wir uns befinden. Wie viele Menschen mussten wohl seit Urzeiten unter solch lebenswidrigen Umständen leben und welch einen Luxus genießen wir …
Von der Hitze bekommen wir im klimatisierten Bus die meiste Zeit über kaum etwas mit. Nur einmal, als wir eine Rast einlegen und uns ein paar Schritte aus dem Bus wagen, spüren wir die sengende Hitze als Vorgeschmack auf die kommende Zeit.
Nach etwa 6 Stunden kommen wir endlich in Shalatin an. Wir sind alle erschöpft, freuen uns auf das Hotel und das Fastenbrechen. Trotz der Erlaubnis, während einer Reise nicht zu fasten, hatten sich die meisten von uns zum Fasten entschieden (eine Entscheidung, die einige sehr bald überdenken würden). Wir fahren zu Bruder Bahaa’s Kontakt in Shalatin, der uns herzlich begrüßt. Wir fragen ihn nach dem nächsten Hotel, doch Fehlanzeige – kein Hotel in Shalatin. Ich kann es nicht glauben, und wir fahren noch ein wenig umher auf der Suche nach einem Hotel. Doch es bleibt dabei: Wir finden keines. In der Zwischenzeit organisiert unser Kontakt für uns eine kleine Gästeunterkunft. Auf den ersten Blick sieht sie nicht schlecht aus: Von außen sehe ich, dass die Unterkunft mindestens eine Klimaanlage hat, eine Moschee ist in Laufnähe und das Rote Meer am Horizont. Vielleicht würde ja ein kleines Lüftchen in der Nacht von der Küste her die Hitze erträglicher machen. Es wird auch schon dunkel, bald ist Zeit zum Fastenbrechen und die Wüste kühlt ja bekanntlich in der Nacht ab. Erneut Fehlanzeige: Die Klimaanlage ist kaputt, und die Luft ist wegen der Nähe des Roten Meeres drückend schwül. Khairan inschallah, also wenigstens zur Erfrischung duschen. Doch nach der ersten Dusche verwandelt sich das Bad in eine Sauna, und dichter Wasserdampf breitet sich in der Unterkunft aus.
Nach dem Saunabad und dem Gebet in der Moschee breiten wir auf dem sandigen Boden vor der Gästeunterkunft Matten aus und brechen unser Fasten – im Haus ist es dazu zu heiß. Und trotz der schwülen Hitze darf seltsamerweise der obligatorische orientalische Tee nach der Mahlzeit nicht fehlen.
Da es tagsüber drückend heiß ist und wir viele Familien aufzusuchen haben, machen wir uns noch am gleichen Abend bis tief in die Nacht an die Verteilung der Zakatul-Fitr. Helfer vor Ort haben seit Monaten Vorarbeit geleistet und Listen von Bedürftigen erstellt. Auf den Listen ist die wirtschaftliche und gesundheitliche Situation der Bedürftigen, sowie die Anzahl der Familienmitglieder vermerkt. Die Helfer vor Ort sind zu den betreffenden Familien gegangen und haben ihnen verschiedene Sammelpunkte mitgeteilt, welche sie zu bestimmten Zeiten aufsuchen sollen. Wir fahren die Sammelpunkte für die Nacht ab, übergeben den Bedürftigen ihre mit Namen versehenen Geldumschläge und lassen uns den Empfang per Unterschrift, Daumen- oder offiziellem Namensstempelabdruck quittieren.
Es gibt kaum Häuser aus Lehm oder Ziegel: Die meisten Menschen, dir wir aufsuchen, wohnen in zusammengeschusterten Häusern aus Spanholzresten, Plastik und Wellblech. Trotz der widrigen Lebensumstände begrüßt man uns herzlich, bietet uns Getränke an und wir nehmen unzählige Bittgebete für die Geschwister für die empfangenen Geldumschläge entgegen.
Nachdem das Pensum für die Nacht erledigt ist, fahren wir zu unserer Unterkunft zurück und verteilen uns zu zehnt auf 3 Zimmer. Wir inspizieren alle Betten in der Hoffnung etwas anderes als gefühlte Zwei-Zentimeter-Matratzen auf harten Holzbetten vorzufinden. Erneut Fehlanzeige, aber so einfach lassen wir uns unsere Motivation nicht nehmen, denn alhamdulillah – uns geht es gut. Tamer und ich bekommen sogar ein Zimmer mit funktionierendem (!) Ventilator an der Decke, der sich jedoch als Riesenfön auf höchster Stufe herausstellt. Anstatt unablässig mit heißer Luft angeblasen zu werden, entscheidet sich Tamer nach kurzer Zeit für einen Schlafplatz draußen in der schwülen Hitze. Ich bleibe bei dem heißen Gebläse: „Wahrlich, Allah ist mit den geduldig Ausharrenden.“ (2:153) Vor uns liegen nur wenige Stunden bis zum Suhur und dem Frühgebet, und wir sind für jeden Moment der Ruhe (von Schlaf kann keine Rede sein) dankbar.
Donnerstag, 26.07.2012: Vor uns liegt eine Mammuttour: Wir suchen mehrere hundert Familien in Dutzenden von Stationen auf. Viele fasten, es ist unerträglich heiß. Es fühlt sich an, als würden wir verdampfen. Binnen kurzer Zeit beginnen wir, uns mit Wasser abzukühlen: Wir schütten uns gegenseitig Wasser unter die T-Shirts, die nach wenigen Minuten wieder komplett trocken sind.
Einmal wird unsere Geduld extrem auf die Probe gestellt: Bahaa’s Sohn Mahmud (12) ist einer unserer Begleiter. Er entscheidet sich dafür, sein Fasten abzubrechen: Er trinkt ausgiebig, während wir darauf warten, uns abkühlen zu können. Mahmud lässt sich Zeit, dann erfrischt er sich. Dann tritt er zur Seite, stolpert und – stößt den Behälter mit dem restlichen Wasser um! ‚Ein Glück‘, denke ich in dem Moment, ‚dass du nicht mein Sohn bist!‘ Das war’s, keiner schimpft oder sagt etwas, warum auch. Und obwohl Tamer fastet, schafft er es sogar auch noch in dieser Situation zu lachen.
Wir versuchen, mehr über die Lebensumstände der Menschen hier herauszufinden. Einige Menschen riechen nach Schweiß. Wir finden heraus, dass Wasch- und Trinkwasser eingekauft werden muss. Von nun an sind wir mit dem Wasser, das uns in verschiedenen Häusern angeboten wird, sparsamer.
Die Verteilung läuft alhamdulillah den Umständen entsprechend gut. Tamer ist, wie so oft in den letzten Jahren, ein Segen. Auch im größten Durcheinander behält er den Überblick und weiß bei hunderten von Menschen, wer schon einmal zu uns kam und bereits einen Geldumschlag erhalten hat und wer nicht. Er spricht respektvoll mit den Menschen und nicht „von oben herab“. Ganz bewusst versucht er, sie nicht spüren zu lassen, dass sie arm sind, wie es so viele andere Helfer unbedacht tun. Einmal weint eine bedürftige Schwester, da sie sich schämt, Geld zu nehmen. Tamer scherzt mit ihr und sagt: „Weine nicht, wir bringen euch die Zakatul-Fitr doch zum Eid, heute ist doch ein Tag der Freude!“
Nachdem wir in Shalatin ca. 542 Familien mit 1895 Personen Geldumschläge à 50 ägypt. Pfund/Person übergeben haben, machen wir uns auf den Rückweg nach Assuan. Diesmal fahren wir nachts zurück nach Assuan, um der Hitze bestmöglich auszuweichen. Die teils kurvenreiche Fahrt mit gefährlichen Überholmanövern endet alhamdulillah gut.
Freitag, 27.07.2012: Wir kommen gegen 6.00 Uhr früh in unserem Hotel in Assuan an, erfrischen uns und ruhen uns aus. Tamer und ich hören Nachrichten: 46 °C soll es in Assuan haben, doch wir verspüren große Erlösung.
Freitag & Samstag, 27.-28.07.2012: Wir verteilen Geldumschläge an 177 weitere Familien mit ca. 769 Personen in Kom Ombo und Umgebung. Trotz kleiner Schwierigkeiten sind wir froh, dass es gut läuft und nicht so brennend heiß ist, Shalatin steckt uns noch in den Knochen.
Sonntag, 29.07.2012: Wir fliegen nach Kairo zurück. Am Flughafen begrüßt uns Tamers Schwester Maisa. Auf der Rückfahrt im Auto bringt sie ihrem Bruder schonend bei, dass seine fünfjährige Tochter Habiba an einer noch nicht genau diagnostizierten Form von Enzephalitis erkrankt ist. Maisa fährt uns direkt ins Krankenhaus. Für Tamer steht die bisher schlimmste Zeit seines Lebens an, in der er um das Leben seiner Tochter bangt. Ihr geht es sehr schlecht, sie ist gelähmt und kann kaum sprechen. Das CT zeigt eine starke Schwellung im Gehirn. In den kommenden Wochen kämpfen wir mit unzähligen Ärzten, Untersuchungen, Medikamenten und Bittgebeten um Habibas Leben. Lange stagniert ihr Zustand, dann erholt sie sich ganz langsam und schließlich geschieht das Wunder: Ihre vollständige Genesung, alhamdulillah.
„O die ihr glaubt, wenn ihr Allah(s Sache) helft, hilft Er euch ….“ (47:7)
„… wer an Allah glaubt und an den Letzten Tag, und wer Allah fürchtet, dem gibt Er einen Ausweg, und Er versorgt ihn, von wo er nicht damit rechnet, und wer auf Allah vertraut, so ist Er sein Genüge, Allah erreicht ja seine Sache, Allah hat schon für alles ein Maß gemacht.“ (65:2-3)