Von Nadya Moussa
Vielleicht hat nicht alles ein Ende, aber Vieles. Ein Schuljahr beispielsweise endet mit der Zeugnisausgabe. Bei einem letzten Appell im auslaufenden Schuljahr 2016/17 versammelten sich die Schüler und Schülerinnen der muslimehelfen Primary School in Bujumbura vor ihrem Lehrerstab. Manche sehr ernst, andere mit vor Freude strahlenden Gesichtern, die Jüngeren zappelten ein wenig herum, ein wenig übermütig vor Aufregung, die überwog. Einige Eltern, vorwiegend Mütter, vielleicht auch Tanten, Großmütter waren ebenfalls anwesend. Sie alle feierten. Sie feierten nicht nur, dass die Kinder und Jugendlichen ein weiteres Jahr in der Grundschule hinter sich gebracht hatten, sondern auch das Besondere, dass jedes Kind – mit zwei Ausnahmen –, das sich im September 2016 eingeschrieben hatte, im August 2017 ein Schuljahr beendet hatte. In diesem Schuljahr gab es nur zwei Abgänger, ein Schüler war mit seiner Familie umgezogen und der zweite sollte an einer Schule angemeldet werden, die näher an seinem Wohnort war.
Alhamdulillah. Anders war es in den vorausgegangenen Jahren, als zum Kalenderjahreswechsel, vor Ende des ersten Schulhalbjahres oder kurz nach Beginn des zweiten einige Schüler die Grundschule verlassen hatten. Die Kinder und Jugendlichen waren mit ihren Familien entweder über die Grenze ins benachbarte Ruanda oder in eine andere Stadt oder Provinz innerhalb Burundis geflohen.
Wirft man einen Blick auf die Weltkarte, könnte man meinen, das Herz Afrikas schlüge in Burundi, dem kleinen Binnenstaat im Bereich der Großen Seen, zwischen Ruanda, der Demokratischen Republik Kongo und Tansania. Von seinen über elf Millionen Einwohnern leben über eine Million in der Hauptstadt Bujumbura und dreihundertneunzehntausend als Flüchtlinge in Tansania, über einhundertfünfzehntausend weitere im ebenso kleinen Ruanda. Es gibt Zeiten, da werden es mehr, manche wiederum kehren nach wenigen Wochen im Exil wieder zurück an den Ort, der vor ihrer Flucht ihr Zuhause bedeutete.
Burundi ist nicht unbedingt ein Land, das man – salopp gesagt – auf dem Schirm hat. Es ist ebenso klein wie es für die meisten unbedeutend ist, als dass ihm ein Recht in den Acht-Uhr-Nachrichten eingeräumt würde. Doch das Land trägt schwer an seinen tief sitzenden Wunden. Lange andauernde Bürgerkriege haben den kleinen Staat niedergestreckt. Ähnlich wie im Nachbarstaat Ruanda war in den Neunzigern zwischen Hutus und Tutsis erneut ein bitterer Bürgerkrieg entflammt, der erst nach über einem Jahrzehnt im Jahr 2005 mit dem so genannten Arusha peace and reconciliation agreement for Burundi beendet werden konnte. Diese peinlich detaillierte Vereinbarung wurde zwar bereits zur Jahrtausendwende von beiden Konfliktparteien akzeptiert, doch der Bürgerkrieg schwelte noch einige Jahre länger. Sie bildet das Fundament einer neuen Zeit, oder zumindest war dies das erdachte und erhoffte Ziel. Mitglieder der verschiedenen ethnischen Gruppen sollten in allen wichtigen politischen, militärischen und sozialen Einrichtungen und Ämtern gleichberechtigt sein. Das Schriftstück wurde unter erheblicher Mitwirkung von Nelson Mandela aufgesetzt, der sich zwei Jahre lang in endlos erscheinenden Gesprächen mit beiden Seiten unterhielt und verhandelte. Die neue burundische Verfassung stützt sich auf diese Vereinbarung. In der Verfassung ist unter anderem vorgeschrieben, dass das Präsidentenamt nur höchstens zweimal von ein und derselben Person ausgeübt werden darf. Damit soll Korruption verhindert werden und den Vertretern jeder ethnischen Gruppe gleichermaßen das Recht und die Möglichkeit zukommen, sich um das politische Wohl aller im Land zu kümmern und die Interessen aller am besten zu vertreten. Im Jahr 2015 wurde Präsident Pierre Nkurunziza mit einer Mehrheit von siebzig Prozent im Amt bestätigt. Es ist seine dritte Amtszeit als burundischer Staatspräsident.
Die Wochen nach der Wahl waren gekennzeichnet von Gewalt, Morden und Einschüchterungen. Die Erklärungsversuche von Nkurunzizas Partei, dass er bei seinem ersten Amtsantritt nicht gewählt, sondern bestimmt worden sei, gefielen nicht. Fotos von wütenden Mobs gingen um die Welt. Es folgte eine neue Flüchtlingswelle nach Süden und Osten. Die Wirtschaft, sowieso schon am Ende, sank weiter in den Keller. Nicht nur in der Afrikanischen Union stieß diese politische Entwicklung auf Widerwillen. Im folgenden Jahr scheiterten internationale Versuche, die Gewalt zu dämmen und Ruhe einkehren zu lassen weitestgehend. Die UN setzten auf Dialog, der damalige Generalsekretär Ban Ki-moon reiste nach Burundi. Andere setzten auf finanziellen und wirtschaftlichen Druck: Die EU fror ihre Hilfszahlungen ein, das Vereinte Königreich, die USA und die Regierungen einiger europäischer Länder verhängten Sanktionen. Auch die Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union, der auch Burundi angehört, waren verstimmt und wollten Friedenstruppen schicken, die Bujumbura ablehnte.
Die Hauptstadt Bujumbura liegt am nordöstlichen Ufer des Tanganjika-Sees. Dort steht ein Waisenzentrum, dessen Baukosten muslimehelfen übernommen hat, mit einer integrierten Grundschule und dem Büro unserer Partner. muslimehelfen finanziert dank der großzügigen Spender seit bald acht Jahren den Schulbetrieb im Waisenzentrum, die Waisenhilfe sogar seit beinahe zehn Jahren. Waisenhilfe, das sind Lebensmittelhilfen für die Familien von Waisen – viele Familien bestehen aus Mutter, ein paar Tanten und zehn bis fünfzehn Kindern. Wenn ein Mensch stirbt, hinterlässt er eine Lücke, Waisenhilfe ist daher auch psychologische Unterstützung: Je nachdem wie und woran ein Verwandter stirbt und wie psychologisch stark die Hinterbliebenen sind; manchmal kann ein Außenstehender eher helfen zu überwinden, was die Seele nicht zu verstehen vermag. Waisenhilfe bei muslimehelfen bedeutet auch ein Besuch beim oder vom Arzt. Denn nicht nur Magen und Seele bedürfen Aufmerksamkeit. Und schließlich sind auch Bücher, Stifte, Uniformen und Schultaschen, manchmal – für Schüler an weiterführenden Schulen – auch Schulgebühren Waisenhilfe. Die Verteilungen finden geschützt im Hof des Waisenzentrums statt.
Denn die Gefahr auf den Straßen war auch dort, vor dem Waisenzentrum spürbar. Das Zentrum ist mit einer hohen Mauer umgeben, zwei Wachmänner stehen bereit. Hinter den Mauern lernen im derzeit laufenden Schuljahr zweihundertfünfundzwanzig Jungen und Mädchen in den Klassen eins bis acht, die meisten von ihnen sind Waisen. Sechzehn Lehrer unterrichten ihre Schützlinge in den Fächern Mathematik, Französisch, Englisch, Kiswahili, Naturwissenschaften, Technik, Kunst und Religion. Einige der Schüler, die jetzt in der siebten oder achten Klasse sind, sind schon seit den ersten Klassen an der muslime-helfen Primary School, wie Zainabu Sefu. Zainabu ist jetzt 15 Jahre alt und lebt bei ihren Verwandten in Buyenzi, einem Stadtteil Bujumburas. Am Ende des Schuljahres 2016/17 wurde sie gefragt, ob sie den Spendern von muslimehelfen etwas mitteilen möchte. Sie wollte, dass die Spender wissen: „Ich bin zwar eine Waise, aber durch eure Unterstützung geht es mir gut. Ich bekomme, was ich brauche. Ich lerne, habe eine Uniform und Bücher, ich bekomme ärztliche Hilfe und etwas zu essen. Ich habe in der zweiten Klasse hier angefangen und jetzt bin ich in der Siebten und im nächsten Schuljahr komme ich in die achte Klasse. Außer Danke kann ich euch nichts sagen. Nur Allah kann euch mit der höchsten Stufe im Paradies belohnen.“ Zainabu ist eine von dreiunddreißig Schülern und Schülerinnen, die erstmalig an der Grundschule in die siebte Klasse versetzt wurden. Nicht, weil alle Schüler der Vorläuferklassen so schlecht abgeschnitten hätten, sondern weil es vorher keine siebte Klasse gegeben hatte.
In Burundi wurde das Grundschulsystem geändert, statt sechs Jahre, wie bisher, sollen die Jungen und Mädchen landesweit nun neun Jahre in die Grundschule gehen. Solch eine Änderung lässt sich allerdings nicht so leicht von heute auf morgen bewerkstelligen. Das neue Gesetz betrifft alle Grund- und weiterführenden Schulen landesweit, Umbaumaßnahmen sind notwendig, weil die wenigsten Schulen den Luxus von zu viel Raum genießen. Für die siebten bis neunten Klassen müssen laut einer Verordnung zusätzliche Lehrer angestellt werden, es fehlt an Stühlen, Tischen, Büchern. Das Waisenzentrum betreffend musste also angebaut oder neu gebaut werden. Denn die Alternative wäre gewesen, dass die Absolventen der sechsten Klassen die muslimehelfen Primary School hätten verlassen müssen.
Eine bisherige Regelung der Regierung besagte, dass die Leistung der Schüler ausschlaggebend für die Qualität ihrer weiteren Schullaufbahn gewesen wäre. Das bedeutet, je besser ein Schüler bei den landesweiten Abschlussprüfungen der sechsten Klasse abgeschnitten hatte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie einen Platz an einer der besten staatlichen Schulen erhalten hätte. Die Schüler der muslimehelfen Primary School waren stets unter den Besten. Doch in 2015 war diese Verordnung aufgehoben worden und unsere Partner befürchteten, dass die Kinder, die bisher in ihrer Obhut waren, auf Grund der steigenden Korruption und ihrer Armut keine Chance auf einen Platz an einer guten Schule gehabt hätten. Die Alternative wären Schulen in schlechtem Zustand mit fehlenden Stühlen, Tischen und Büchern, und an die einhundert Klassenkameraden.
So wurde das Waisenzentrum dann ab Mitte Juli 2017 zu einer Großbaustelle. Damit der Unterricht nicht beeinträchtigt wurde, fand der Anbau hauptsächlich in den Ferien statt. Im Hof, auf dem sonst die Jungen und Mädchen in den Pausen Fußball spielten, Seil hüpften oder sich in Grüppchen unterhielten, wurde ab dem Spätsommer vermessen, gesägt und genagelt. Doch der Anfang war schwer. Es hatte Monate gedauert, bis man überhaupt mit den Baumaßnahmen hatte beginnen können. Die Unruhen machten das für Ende 2016 geplante Bauprojekt unmöglich. So langsam griffen die Sanktionen der ausländischen Mächte und machten sich im Alltag bemerkbar. Die Preise für Lebensmittel stiegen zum Teil drastisch an. Einige Wochen lang waren Grundnahrungsmittel wie Speiseöl über vierzig Prozent teurer als normal, die Kosten für Schulmaterial waren stellenweise um fast einhundertfünfzig Prozent gestiegen. Um die Preise zu senken und die Bürger zu beschwichtigen, hatte der Staatspräsident angeordnet, dass die Einfuhrzölle für ausländische Lebensmittel aufgehoben werden sollten. Die Preise sanken.
Obwohl die Gewalt nachgelassen hat, ist die Gesamtsituation immer noch fragil, die politische Situation ungelöst. Im Juni 2017 endlich hatte sich der Zustand im Land jedenfalls soweit gebessert, dass der Baubeginn eingeleitet werden konnte. Zuvor hatten die Partner einen Architekten beauftragt, der die Statik des bestehenden Gebäudes prüfen sollte. Wäre das Fundament nicht stark genug gewesen, wäre ein Oberbau auf das Erdgeschoss nicht möglich gewesen. Aber alhamdulillah, der Architekt konnte grünes Licht geben und der Bau in Angriff genommen werden, wenn auch nicht ganz wie geplant. Denn die Sanktionen der europäischen Länder führten zu Fluktuationen der burundischen Franken und zu einem Mangel an Devisen und beeinträchtigten so zunehmend auch die Einfuhr von Baumaterialien und anderen Gütern.
Unter einem dichten Wolkenteppich am Himmel stehen ein Dutzend junger Männer auf dem ehemaligen Dach des linken Flügels des Waisenzentrums in Bujumbura. Der Boden ist mit Sand aufgeschüttet, dünne Baumstämme und Holzplanken liegen dort verteilt. Das Gerüst für die Wände des zukünftigen ersten Stockes steht bereits. Im Hof ziehen sechs Arbeiter mit Armierzangen den Verbindungsdraht um den Betonstahl fest, um ihn so zu einem rechteckigen Bewehrungskorb zu verbinden. Die fertigen Körbe werden später dem Druck in den Wänden und von den Decken standhalten müssen. Diese Szenen wurden von unseren Partnern auf Fotos festgehalten. Sie belegen den Fortschritt der Baumaßnahmen. Weitere Informationen dazu gibt es hier.
Waisenhilfe ist eine Investition in die Zukunft, nicht nur eines Kindes, sondern einer Gesellschaft. Gemeinsam bauen wir sie auf, jeder mit den Mitteln, die ihm oder ihr zur Verfügung stehen.
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