Ahmad von Denffer
Meulaboh ist eine kleine Hafenstadt in Indonesien mit rund 50 000 Einwohnern, an der Südwestküste von Sumatra. Ende Dezember 2004 ging ihr Name um die Welt. Allein dort kamen etwa 40 000 Menschen ums Leben, als der Tsunami an der Küste wütete. Doch wer erinnert sich bei uns noch daran? Von der Provinzhauptstadt Banda Aceh fährt man die 250 Kilometer in rund vier Stunden, wenn man sich einem der einheimischen Fahrer anvertraut. Mehrmals führt die Straße über steile und kurvenreiche Bergabschnitte. Dort ist sie besonders eng. Hinzu kommen längere Strecken auf Meereshöhe. Hier sieht man, wenn man aufmerksam hinschaut, noch die Verwüstung durch den Tsunami. Größere Teile der Straße sind erkennbar neu, denn die Flut hat nicht nur die alte Straße weggespült, sondern ganze Küstenstreifen verschlungen. Aus dem Wasser ragen, wo die kleinen Bergflüsse ins Meer münden, Reste der alten Brückenpfeiler heraus. Näher an Meulaboh sieht man zahlreiche unbewohnte beschädigte Häuser, an deren Wänden das Meerwasser seine Spuren hinterlassen hat. Andernorts schimmern nur noch die Fundamente unter dem Wasser …
In Meulaboh habe ich ein Waisenhaus für Mädchen besucht, das zugleich eine Koranschule ist, eine sogenannte „Pondok“. Nach dem Tsunami eröffnet, wird sie seitdem fortgeführt. Derzeit hat sie siebzehn Schülerinnen im Alter von zwölf bis neunzehn Jahren, zwei weitere kommen demnächst hinzu.
Nach der Begrüßung trug eines der Mädchen mit klarer Stimme und einwandfreier, deutlicher Aussprache etwas aus dem Koran vor. Es waren die ersten elf Verse der Sure al-a’raf, in der es heißt: „Und wie manche Ansiedlung haben Wir vernichtet, und es kam Unser Elend zu ihr, nachts oder als sie Mittagsschlaf hielten …“
Ob das mit Bedacht gewählt war, weiß ich nicht, doch es war mir bedeutsam, es von einer Waise in dem Städtchen Meulaboh gehört zu haben.
„Wie heißt ihr, wie alt seid ihr, seit wann seid ihr hier in der Schule?“ fragte ich die Mädchen. So erfuhr ich, dass die 13-jährige Kasturi erst vor zwei Tagen hierher gekommen war, während Fatris in ihren dreieinhalb Jahren Schulzeit acht der „dschus“ genannten Koranteile auswendig zu rezitieren gelernt hat. Salimah, mit zwölf Jahren die Jüngste, kann einen ganzen Teil aufsagen.
„Und wie verbringt ihr den Tag?“ Da wollte niemand den Anfang machen. Doch auf meine Frage: „Wer von euch steht denn morgens als erste auf?“ kam prompt die Antwort – ein allgemeines lautes Lachen. Alle dachten wohl: Zum Glück hat er nicht gefragt „Wer schläft am längsten?“. Jetzt waren die Gesichter entspannt. Fatris schilderte den Tagesablauf. Gegen vier Uhr morgens wacht sie auf, meist von selbst. Eine eigene Uhr hat sie nicht, aber im Zimmer hängt eine Uhr an der Wand. Manchmal kommt auch eine der Betreuerinnen und weckt alle. Gemeinsam wird ein tahadschud-Gebet verrichtet. Danach bleibt noch etwas Zeit, sich dem Abschnitt aus dem Koran zu widmen, den man gerade auswendig lernt.
Der Gebetsruf ist gegen fünf Uhr zu hören. Die Moschee liegt direkt nebenan. Nach dem Morgengebet werden Worte des Gottesgedenkens gesprochen. Es gibt auch kurze Ansprachen mit guten Ratschlägen und Ermahnungen. Um halb sieben wird gefrühstückt, Reis mit Fisch oder Gemüse, getrunken wird normalerweise Wasser, nur selten einmal Tee.
Anschließend folgt „tahfiz“, das Memorieren des anstehenden Koranabschnitts. In der Pause um halb neun wird das duha-Gebet verrichtet, ab Viertel nach neun gibt es „tahsin“, die Verbesserung des Auswendigvortrags und der Rezitation. Um elf Uhr beginnt die lange Pause bis zum Mittagsgebet gegen halb eins. Man kann sich ausruhen und duschen. Nach dem Gebet gibt es das Mittagessen, wieder Reis mit Beilage, wie zum Frühstück.
Am Nachmittag beginnt der allgemeine Schulunterricht, der, unterbrochen vom Nachmittagsgebet, bis halb Sechs dauert. Die Waisen werden je nach Alter den Lehrplänen in den öffentlichen Schulen folgend unterrichtet. Vor dem Abendgebet gibt es das Abendessen, ja, wieder Reis mit Beilage! Das Nachtgebet findet gegen acht Uhr statt. Danach widmet man sich nochmals dem Auswendiglernen des Korans, und um zehn Uhr ist schließlich ein langer Tag zu Ende gegangen. Soweit der Bericht von Fatris.
Die anderen Mädchen erzählen nun, dass sie in der Morgenpause auch ihre Zimmer und das Haus reinigen und samstags verschiedene praktische Dinge lernen, wie etwa Herstellung von Seife oder Blumenschmuck. Sonntags ist frei und für kurze Ausflüge vorgesehen. Vier der Mädchen bringen zudem von Montag bis Freitag Kinder aus der Nachbarschaft am Nachmittag das Koranlesen bei. Freitags gibt es das wöchentliche Gebet in der Moschee, Donnerstag und Samstag gibt es abends allgemeinen Islam-unterricht für alle.
„Was ist denn aus den Waisen geworden, die in den vorherigen Jahren hier waren?“ will ich auch wissen. Nicht alle haben den ganzen Koran auswendig lernen können, wird mir gesagt. Aber sie haben, anders als in der öffentlichen Schule, nicht nur die üblichen Fächer gelernt, sondern zusätzlich auch Islam-unterricht erhalten. Das sei ja das Ziel der „Pondok“. Einige frühere Schülerinnen haben auf Grund ihrer guten Leistungen Stipendien bekommen und studieren nun an Islamischen Universitäten in der Landeshauptstadt Jakarta.
Dies alles erfuhr ich, während wir im großen unteren Raum des Hauses saßen. Die Waisenmädchen sind in der oberen Etage untergebracht. Viel Platz gibt es nicht, in jedem der vier kleinen Zimmer werden tagsüber die Matratzen aufgestapelt, zum Schlafen auf den Boden gelegt. Neben schmalen Schränken steht ein Gestell zum Wäschetrocknen. An der Wand hängt eine selbstgemachte Tafel mit einigen Sätzen als Lernhilfe. Der Farbanstrich verbirgt kaum den Putz. In der Zimmerdecke prangt ein braun umrändertes Loch, durch das bei Regen das Wasser fließt. Es muss dann mit einer Schüssel aufgefangen werden. Das Geld für die Reparatur fehlt leider, sagt mir der Schulleiter.
Da wenigstens können wir inschallah weiterhelfen, denke ich. Und auch die Kosten für das Essen können wir inschallah decken. Dreimal am Tag Reis mit Beilage mag sattmachen, aber zur Abwechslung dürften es auch ab und zu einmal Nudeln sein …
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