Antakya, das biblische Antiochien, in der türkischen Provinz Hatay ist die der syrischen Grenze nächstgelegene Stadt. In einer Seitenstraße stehen mehrstöckige Häuser, darin Wohnungen rechts und links der Treppen. In einer dieser Wohnungen im Erdgeschoss stehen in zwei Zimmern jeweils drei Betten. Auf jedem dieser Betten liegt ein Mann mit Schussverletzungen. Einer ist schon länger hier, ein anderer erst vor ein paar Tagen angekommen. Was sie berichten, ist ähnlich. Sie sind Syrer und kommen aus dem Grenzgebiet, nicht aus großen Städten. Sie wurden von syrischen Sicherheitskräften beschossen. „Ich hielt einen Ölbaumzweig in der Hand“, sagt mir einer von ihnen, dessen linker Arm getroffen wurde. Die Wunde ist verheilt, doch der Arm ist sichtbar deformiert und seither gelähmt. „Wir waren am Freitag in der Moschee“, sagt ein anderer, „danach haben wir demonstriert. Ein gepanzertes Fahrzeug schoss in die Menge.“ Sein linkes Bein ist bandagiert, die Wunde noch offen. Auch bei ihm gibt es Lähmungserscheinungen. Gäbe es die kleine Wohnung nicht, in der die Patienten untergebracht und versorgt werden, müssten sie Aufnahme in einem der sechs großen Flüchtlingslager suchen, die von der türkischen Regierung in Grenznähe eingerichtet wurden. Ich solle eines dieser Lager besuchen, sagt man mir und empfiehlt das in Bohşin. Dr. H., ein junger Arzt, fährt hin, und ich kann ihn begleiten. Er ist Kinderarzt syrischer Herkunft, lebt und arbeitet aber in Saudi-Arabien und hat sich entschlossen, seinen vierwöchigen Jahresurlaub hier zu verbringen und zu helfen. Für einige der Kinder, die er gestern untersuchte, bringt er nun die notwendigen Medikamente.
Was ich in Bohşin sehe, bestätigt meine Erwartungen. Ja, Flüchtlinge leben nicht in Fünf-Sterne-Hotels, und es gibt immer etwas, das man besser machen kann. Doch die 1700 syrischen Flüchtlinge hier sind gut versorgt. Das Lager wird vom Türkischen Roten Halbmond betrieben. Verglichen mit anderen Flüchtlingslagern, die ich im Laufe der Jahre gesehen habe, ist es beeindruckend gut organisiert, und trotz der meiner Ansicht nach vermeidbaren Enge ist es sehr sauber. Ich sehe keinen Menschen in abgetragener oder schäbiger Kleidung, kein Kind weint, weil es hungert. Es gibt regulären Unterricht für die etwa 500 Schüler, die Lehrer sind überwiegend Türken aus der Umgebung von Antakaya, und die meisten von ihnen sprechen ohnehin, wie viele Menschen im Grenzgebiet, auch Arabisch. Man hat die Türkei kritisiert, weil sie internationalen Hilfsorganisationen nicht Tür und Tor öffnet, aber man berichtet kaum darüber, was die Türkei hier selbst leistet. Das ist merkwürdig.
Im Gespräch mit einem der Vertrauensmänner der Flüchtlinge, der uns durch das Lager führt, erfahre ich indes, dass es für die Lagerinsassen jenseits des Schulalters keine besondere Betreuung gibt. Kann man da nichts tun? frage ich. Nein, heißt es, so etwas ist nicht vorgesehen. Kann man nicht eine Befragung machen, sage ich, um festzustellen, woran eventuell Interesse besteht? Darauf erhalte ich eine Antwort, die mich erstaunt: „Das ist eine gute Idee, das hat noch niemand vorgeschlagen.“ Diese Antwort drückt wohl die Lage aus, in der sich die Flüchtlinge befinden. Sie hoffen, nur vorübergehend bleiben zu müssen und haben sich innerlich auf einen langen Zeitraum nicht eingestellt. Dabei sind viele von ihnen nun schon um die neun Monate hier…
Ich betone, dass man die Zeit nicht einfach verstreichen lassen sollte. Vor allem die jungen Leute, die zwar die Schule abgeschlossen, aber nun keine Möglichkeiten zur Weiterbildung haben, brauchen eine Perspektive. Muslime Helfen, denke ich mir, ohne es an dieser Stelle zu sagen, kann so ein Vorhaben unterstützen. Klärt bitte, empfehle ich stattdessen, ob nicht in einem großen Zelt eine Lehrwerkstatt vorstellbar ist, um diejenigen in Handwerk und Technik auszubilden, die dafür in Frage kommen, natürlich in Absprache mit der Lagerverwaltung. Haben denn einige der Frauen Nähmaschinen, will ich weiter wissen, so etwas ist doch bei der Instandhaltung der Kleidung, vor allem auch der Kinder, sicher hilfreich? Nein, Nähmaschinen gibt es nicht, erfahre ich. Auch hier könnte Muslime Helfen also etwas tun, vielleicht haben ja manche Frauen und Mädchen Interesse an der Schneiderei. Es wird mir zugesagt, diesen Fragen nachzugehen und baldmöglichst Bescheid zu geben.
Wir sitzen im großen Moschee-Zelt und warten auf die Kinder, die ihre Medikamente bekommen sollen. Sie werden von ihren Eltern gebracht, nachdem der Vertrauensmann der Lagerinsassen sie über Lautsprecher ausgerufen hat. Der Arzt sieht das Kind nochmals an und erläutert Vater oder Mutter die Anwendung des Medikaments. Zwar gibt es im Flüchtlingslager auch eine Krankenstation, doch die Versorgung und damit der Heilungsverlauf können nach Ansicht von Dr. H. durch Unterstützung von außerhalb erheblich verbessert werden. So verhalte es sich auch bei den Verletzten in der Wohnung in Antakya. Beispielsweise werden diejenigen von ihnen, die Lähmungserscheinungen aufweisen, dort in der Stadt von einem Physiotherapeuten besucht und behandelt, was im Flüchtlingslager nicht zu erwarten ist. Die sechs Betten in der Wohnung in Antakya sind ohnehin nicht genug. Es kommen täglich neue Verletze über die Grenze, sagt mir Dr. N., ein syrischer Arzt, der eigentlich in Deutschland zuhause ist, doch nun die Initiative ergriffen hat und nach Antakya gekommen ist. Mit bewundernswerter Geduld setzt er sich ein, sucht nach einem größeren Haus, und sucht nach Mitteln, um es zu mieten, einzurichten und die medizinische Betreuung zu gewährleisten. Das alles ist nicht einfach. Antakya liegt im Grenzgebiet zu Syrien, und die Einstellungen der hiesigen Einwohner sind in manchen Fragen ähnlich ungleich wie jenseits der Grenze. In der Stadt gibt es zudem auch noch knapp 300 Flüchtlingsfamilien, die ebenfalls für jede Hilfe dankbar sind. Soviel ist klar: Wir können das Problem in Syrien nicht lösen. Aber wir können einen Beitrag leisten, manchen der Menschen, die davon betroffen sind, ihre Lage zu erleichtern. Wir können versuchen, ihnen verbesserte Heilungschancen zu geben und eine andere Perspektive für die Zukunft als Morden und Töten.