Tahiras Töchter strahlen vor Freude. Vor ihnen steht ein weißer, rechteckiger Karton mit der grünen Aufschrift INDIA Covid-19 emergency relief – 2021 neben dem Logo von muslimehelfen. Tahira überlässt es ihren Töchtern das Paket zu öffnen. Sie staunen und freuen sich über Linsen, Erbsen, Öl und Bohnen. Nicht gerade das Alltägliche. Es sind Lebensmittel, Grundnahrungsmittel. Tahira ist 39 Jahre alt, alleinerziehende Mutter dreier Kinder und verwitwet. Sie lebt in einem kleinen Haus im alten Teil Hublis, einer Stadt im Distrikt Dharwad im Bundesstaat Karnataka an der Westküste Indiens. Ihr Mann ist bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Er war Florist und Alleinverdiener seiner sechsköpfigen Familie. Er ist schon lange tot. Seine Witwe bemüht sich redlich, die Familie zu versorgen. Ihre Schwiegermutter ist fast siebzig und wie viele ihres Alters leidet sie an Diabetes. Viele Möglichkeiten hat Tahira nicht. Sie hat keine Ausbildung; wie hunderttausende anderer Frauen auch, arbeitet sie auf Tagelöhnerbasis.
Weltweit leidet jeder Zehnte
Arbeiten ist vielleicht das falsche Wort, sie versucht ihre Familie zu ernähren, den Mindestbedarf zu decken: wenigstens einmal am Tag eine Mahlzeit anzubieten, die Schulgebühren für die Mädchen zu bezahlen, Medikamente für die Schwiegermutter zu kaufen. All das stemmt sie allein, indem sie Beedies rollt, eine Art Zigaretten. Oft reicht es nicht. Vor allem in letzter Zeit. Kurz bevor sie im Juni 2021 das Lebensmittelpaket über die vierte Coronanothilfe erhalten hatte, hatte sie zwei Monate durchgehend nicht gearbeitet. Zwei Monate lang kein Verdienst, nichts. Schuld war der lockdown, mal wieder. In manchen Ländern gehört diese Maßnahme langsam zum Alltag. Schutz ist essenziell. Aber die Folgen sind bitter. Betroffen sind vor allem Familien wie Tahiras. Tagelöhner dürfen während des lockdowns nicht arbeiten, nirgendwo, nur System-relevante Bereiche sind geöffnet. Tagelöhner sind nicht System-relevant: die Rikschafahrer auf den Straßen, die kleinen Händler, die auf den Märkten ihre Waren anbieten. Die Gesellschaft braucht sie nicht. Dass sie, die Gesellschaft, die Tahiras und ihre Familien schon vor dem lockdown aufgegeben hat, spielt für sie keine Rolle. Doch kaum jemand rollt freiwillig Beedies oder verkauft aus Taiwan importierte Plastikschüsseln für wenige Cent, die nach dreimal Spülen vergilben. Ihnen allen fehlt es an Möglichkeiten. Möglichkeiten, die ihnen die Gesellschaft, die sie ausschließt, verwehrt. Tahira hatte Schwierigkeiten ihre Familie zu ernähren. Das verwundert nicht, vom Beedie-Rollen lässt sich kaum etwas verdienen und das, was man verdienen kann, reicht nicht, um etwas anzusparen. In der Folge hungert die Familie und wie sie Milliarden Menschen mehr.
Akuter Hunger meint die extremste Form; sie meint Unterernährung, die über einen klar definierbaren Zeitraum besteht. Menschen, die akutem Hunger ausgesetzt sind, sind oft zusätzlich von Krisen bedroht wie Naturkatastrophen, Kriegen oder bewaffneten Konflikten.
Chronischer Hunger hingegen ist eine langanhaltende Unterernährung, währenddessen der Körper weniger Nahrung aufnimmt als er benötigt. Diese Form ist weltweit und am weitesten verbreitet. Hauptgrund dafür ist Armut. Daher tritt chronischer Hunger oft zusammen mit anderem Mangel auf: fehlender Zugang zu sauberem Wasser und/oder Gesundheitsvorsorge.
Hunger entsteht meist durch Armut.
Versteckter Hunger ist eigentlich eine Unterform von chronischem Hunger. Sie ist sogar in Industrieländern verbreitet und entwickelt sich über eine lange Zeit hinweg. Versteckter Hunger ist meist Folge einer unausgewogenen Ernährung, über die dem Körper essenzielle Nährstoffe vorenthalten werden. Fehlen dem Körper durch Mangelernährung Spurenelemente wie Eisen, kann das verheerend enden. Wir benötigen Eisen für den Zellaufbau, in Wachstumsphasen ist es unverzichtbar. Aber auch Erwachsene brauchen es. Eisen bindet den eingeatmeten Sauerstoff an den Blutfarbstoff Hämoglobin. Fehlt Eisen, kann der Sauerstoff nicht über die Blutbahnen transportiert werden, obwohl wir ihn einatmen. Ein Mangel führt zu erhöhtem Herzschlag, Müdigkeit, Konzentrationsschwächen, Kurzatmigkeit, Schwächegefühl und einigem mehr. Eisenmangel ist vor allem bei Kindern und Frauen weit verbreitet. Fast 80% aller von Wachstumsstörungen betroffener Kinder leben in Konfliktzonen.
Durch extremen Eisenmangel hervorgerufene Anämie ist eine häufige Erkrankung bei Mädchen und Frauen bis zur Menopause, weltweit. Unbehandelt kann sie in extremen Fällen zum Tod führen. Eisen findet sich neben Fleisch, auch in Hülsenfrüchten, einigen Getreiden, Gemüsesorten, Eiern und Fisch. Wer am Tag nur etwa einen bis zwei Euro verdient und dann auch nur, wenn es ein guter Tag war, kann sich diese Lebensmittel kaum und erst recht nicht auf Dauer leisten. Ende Mai verlangten Händler in Hubli umgerechnet 53 Cent für ein Kilo Reis. Dieser Preis ist theoretisch, denn Reis wird nicht in Ein-Kilo-Packungen verkauft, in vielen Ländern gibt es Mindestmengen, z.B. ab 5 Kilo Reis. Zur selben Zeit kosteten ein Liter Sonnenblumenöl umgerechnet 1,91 Euro, ein Kilo Weizenmehl 45 Cent, ein Kilo Linsen 1,08 Euro, 500 Gramm Mungbohnen 1,16 Euro, 500 Gramm Erbsen 1,07 Euro, 500 Gramm rote Bohnen 96 Cent und 500 Gramm Augenbohnen 90 Cent. Ende Juli waren die Preise für die meisten der eben genannten Lebensmittel um weitere Cent angestiegen. Weltweit sind etwa zwei Milliarden Menschen verstecktem Hunger ausgesetzt.
Wie entsteht dieser Hunger? Gründe gibt es viele: Armut, Ungleichheit, Naturkatastrophen und Extremwetter, schlechte Staatsführung, Verschwendung von Ressourcen, Krieg und bewaffnete Konflikte sind einige davon.
60% der am meisten von Hunger bedrohten Menschen leben in Konfliktzonen.
Betroffen sind vor allem Menschen, die in ländlichen Regionen leben. Das hängt u.a. mit ihrer Lebensweise und den Gegebenheiten dort zusammen, aber auch von äußeren Einflüssen ab, die sich negativ auf die Betroffenen auswirken. Ein Großteil der von Hunger Betroffenen baut selbst Lebensmittel an und sollte sich daher selbst versorgen können. In der Regel steht den meisten aber weniger als 1,6 Hektar Landfläche zur Verfügung. Das klingt nach sehr viel, reicht aber nicht aus, um all das anzubauen, was verzehrt werden muss, um sich und seine Familie gesund ernähren zu können. Einige Pflanzen verlangen große Flächen, auf denen sie wachsen, und liefern auf kleineren Flächen weniger Erträge. Getreide beispielsweise. Gemahlene Getreidekörner ergeben Mehl zum Brotbacken. Aber bis eine genügende Menge an Mehl gemahlen ist, um daraus Brot herstellen zu können, muss viel Weizen, Gerste oder auch Mais geerntet werden. Und das ständig. Man isst nicht nur einmal im Jahr Brot und auch nicht ausschließlich. Sich selbst versorgende Kleinbauern haben keine Zeit einer anderen Tätigkeit nachzugehen. Landwirtschaft ist Schwerstarbeit, von morgens bis abends. Selbst wenn sie wollten, den meisten fehlt eine Ausbildung, um in einem anderen Bereich zu arbeiten. Hirten benötigen Weideflächen für ihr Vieh. Sie brauchen Land mit Wasservorkommen, das entweder von Flüssen durchzogen ist oder andere Wasserquellen bietet. Indigene Gemeinden leben mit und auf dem Land, das sie bewohnen. Bis heute werden sie immer weiter vertrieben und zurückgedrängt und so in ihrer Lebensweise behindert. Fischer sind zwar nicht auf Land angewiesen, aber leben vom Wasser und müssen ebenso wie Kleinbauern eine gewisse Menge erwirtschaften bzw. Fischmenge angeln oder in Netzen oder Reusen fangen, um davon leben zu können, den Großteil zu verkaufen und einen Teil davon selbst zu essen. Vom Verkauf des Fisches bezahlen sie anfallende Zusatzausgaben. Manche Tagelöhner arbeiten als ungelernte Landhelfer auf den Ackerflächen von Großgrundbesitzern oder reicheren Bauern.
Die Existenz all dieser Menschen wird mit jeder Flut, jeder Dürre, jedem Erdbeben, jedem Erdrutsch, jedem bewaffneten Konflikt und jedem Krieg bedroht. Naturkatastrophen verhindern über Monate, manchmal sogar über Jahre hinweg, dass die ansässigen Betroffenen zur Normalität zurückkehren können. Wenn die Ernte verheert ist, gibt es – je nach Anbau ñ im gesamten Jahr keine weitere Ernte mehr. Bewaffnete Gruppen, die länderübergreifend die Landbevölkerung belästigen, einschüchtern oder unterdrücken, verhindern, dass Bauern ihre Ernte einfahren oder aussäen können, halten Fischer davon ab, aufs Meer rauszufahren, schlagen ihre Boote ein und zerschneiden ihre Netze, entführen Kinder und begehen andere Straftaten. Sie stellen in vielen Teilen der Erde eine immer weiter zunehmende Bedrohung dar. Auch die für Handel und Verteilung von Grundnahrungsmitteln ausgebaute Infrastruktur leidet. Straßen und Bewässerungssysteme werden blockiert oder beschädigt. Handel kann nicht funktionieren, Waren können nicht transportiert, verkauft und verteilt werden. In Folge bleiben Händler auf ihren Waren sitzen, die verderben, oder können weniger Lebensmittel verkaufen, wodurch der Preis ansteigt und für manche unbezahlbar wird. Ganze Bevölkerungsteile leiden so.
10 von 13 der schlimmsten Lebensmittelkrisen weltweit werden durch Konflikte geschürt.
Kinder, die in Armut geboren werden, sterben sehr oft auch arm. Sie sind gefangen in einem Teufelskreis. Unterernährte Frauen, die sich während der Schwangerschaft nicht gesund und ausgewogen ernähren können, bringen oft unterentwickelte, untergewichtige Kinder zur Welt, viele werden zu früh geboren. Was mangel- oder unterernährten Kindern im Mutterleib fehlt, können sie nach der Geburt selten aufholen. Betroffene Kinder weisen in der Regel ein geschwächtes Immunsystem auf und sind häufiger anfällig für Krankheiten, besonders auch für chronische Krankheiten, selbst im Erwachsenenalter. Die kognitive und physische Entwicklung der Kinder leidet, sie wachsen weder körperlich noch reifen geistig wie ihre gesunden Altersgenossen. Jahre unzureichender Ernährung führen bei den Betroffenen zu Konzentrationsschwächen, auch im Erwachsenenalter. Kinder, die sich nicht konzentrieren können, schneiden in der Schule schlecht ab und haben daher weniger gute Chancen auf einen guten Ausbildungsplatz und später auf eine gute Arbeit. All das kann dazu führen, dass aus mangel- oder unterentwickelten Kindern Erwachsene werden, die nicht leistungsfähig sind und sich dauerhaft nicht auf eine Aufgabe konzentrieren können. Arbeitsmöglichkeiten zu finden, über die sie sich und ihre Familien ernähren können, ist schwer. Also bleiben die meisten arm.
Handel ist eine Quelle für Ungleichheit und Missstand, angefangen beim Welthandel. Lediglich einige wenige Länder regulieren den gesamten Welthandel. Denn Subventionen und andere Hilfsgelder fördern Wirtschaftszweige, nicht Menschen. Handelsabkommen sind oft ungerecht. Ärmere Länder können es sich nicht leisten, auf Abkommen zu verzichten. Zugutekommen diese Abkommen nur meist Firmen und Branchen aus Industrieländern, die Zugang zu fremden Märkten erhalten und sich Preisvorteile verschaffen können. Da entwicklungsschwächere Länder in der Regel Rohstoffe exportieren und keine eigene Industrie vorweisen, die Rohstoffe aber oft erst weiterverarbeitet überhaupt Profite abwerfen, haben sie nicht viel vom Handel, den sie betreiben. Gewinner dieser Geschäfte sind in der Regel die Abnehmerstaaten. Hinzu kommen Spekulanten, die an den Börsen mit Rohstoffen handeln und so nach Gutdünken Preise nach oben treiben oder in den Keller fallen lassen. Die beliebtesten Rohstoffe sind Öl, Weizen und andere Lebensmittel.
Ungleichheit ist oft strukturell beeinflussbar und trifft vor allem Frauen. Weltweit sind nach Studien des World Food Programme 690 Millionen Menschen Lebensmittelunsicherheit ausgesetzt. Sechzig Prozent von ihnen sind Mädchen und Frauen. In Regionen, in denen Hunger herrscht, essen Frauen weniger und meist nach allen anderen. Schon Mädchen werden benachteiligt – es werden mehr Mädchen als Jungen aus der Schule genommen. Auch später im Leben fehlt ihnen noch häufig der Zugang zu Bildung. Bei fehlenden und mangelhaften Bildungschancen ist die Gefahr groß, dass Frauen weniger selbstständig und öfter auf männliche Angehörige angewiesen sind. Mit fehlendem Wissen oder einer Ausbildung fällt es ihnen schwer, eine gute Erwerbsgrundlage zu finden, die es ihnen ermöglicht ihren Lebensunterhalt oder den ihrer Familie zu verdienen oder zu verbessern. Hinzu kommt, dass Frauen im Durchschnitt für dieselbe geleistete Arbeit geringer bezahlt werden als Männer. Besonders problematisch ist die Situation für Witwen oder Geschiedene, die nicht nur kulturell stigmatisiert werden, sondern auch oft von anderen Verwandten oder Familienangehörigen keine Unterstützung erwarten können.
Möglich sind diese Ungerechtigkeiten oft durch schlechte Staatsführung, die Gleichheit und Gleichberechtigung verhindern, indem die eingebrachten Gesetze und die Politik allgemein am Bedarf der Ärmsten Bevölkerungsteile vorbeigehen. Strategien, welche die Landwirtschaft stärken und ausbauen, gibt es kaum. Viele Länder sind u.a. auch deshalb von importierten Grundnahrungsmitteln abhängig. Weitverbreitete Korruption und Landraub verhindern eine positive Entwicklung ebenso.
Viele dieser Punkte treffen auch auf Tahira und ihre Familie zu. Sie haben Lebensmittel erhalten, die vorerst ausreichen. Doch aus einem Karton wachsen sie nicht nach. Wenn sie aufgebraucht sind, wird die Familie wieder hungern, wie andere auch.
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